Ein kurtzweilig lesen von Dyl Vlenspiegel

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Titelblatt einer frühen Ausgabe.

Ein kurtzweilig lesen von Dyl Vlenspiegel ist ein frühneuzeitlicher Schelmenroman. Es handelt sich um die erste umfangreiche literarische Bearbeitung des Eulenspiegel-Stoffs, wobei mehrere der geschilderten Streiche auf wesentlich frühere, teils antike Wandermotive zurückgehen, die erst später mit der Figur des Till Eulenspiegel verknüpft wurden. Das Kurtzweilig Lesen bzw. eine seiner Übertragungen ins Neuhochdeutsche diente als Vorlage für die diversen Umsetzungen der Eulenspiegel-Abenteuer im MOSAIK und ums MOSAIK herum.

Inhaltsverzeichnis

Druckgeschichte

Entstehung

Der vollständige Titel des in mittelniederdeutscher Sprache verfassten Volksbuchs lautet Ein kurtzweilig lesen von Dyl Vlenspiegel geborē vß dem land zů Brunßwick. Wie er sein leben volbracht hatt .xcvi. seiner geschichten ("Ein kurzweiliges Lesen von Till Eulenspiegel, geboren aus dem Land zu Braunschweig, wie er sein Leben verbracht hat. 96 seiner Geschichten"). Es erschien zu Beginn des 16. Jahrhunderts in der Druckerei von Hans Grüninger in Straßburg; das genaue Jahr ist nicht bekannt (wohl um 1510/11), die älteste erhaltene Auflage stammt von 1515. Ebenfalls unbekannt ist der Verfasser. Es kommen hierfür sowohl Autoren aus der Gegend von Braunschweig in Frage (Hermann Bote, Hieronymus Brunschwig), als auch solche aus dem Umfeld der Druckerei, inklusive des Druckers selbst (Hans Grüninger, Hermann Buschius, Johannes Adelphus und andere); ohne weiteres denkbar ist auch eine Co-Verfasserschaft mehrerer Autoren.

Aufbau

Das Buch beginnt mit einer Einleitung des anonymen Autors, in der er u.a. auf zwei seiner Quellen für Eulenspiegels Streiche verweist:

[...] mit zů legung etlicher fabulen des pfaff Amis / vnd des pfaffen von dem Kalen berg.
[...] unter Hinzunahme etlicher Fabeln des Pfaffen Amis und des Pfaffen von Kalenberg.

Gemeint sind der mittelhochdeutsche Schwankroman vom Pfaffen Amis aus der Feder des Strickers (entstanden um 1240) und die Schwanksammlung Des pfaffen geschicht und histori vom Kalenberg von Philipp Frankfurter. Beide lagen seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bereits gedruckt vor, der Pfaffe von Kalenberg seit 1470, der Pfaffe Amis seit etwa 1483.

Im Kurtzweilig Lesen folgen auf die Einführung 96 kurze bis sehr kurze Episoden ("Historien", Nr. 42 fehlt allerdings). Diese schildern jeweils einen Streich Eulenspiegels, mit Ausnahme der ersten Historie, die seine Geburt und seine Taufe, und der letzten drei Historien, die Ereignisse nach seinem Tod behandeln. Üblicherweise beginnt jede Episode damit, dass Eulenspiegel, der kreuz und quer durch die Gegend reist, in eine neue Stadt oder ein neues Land kommt und schnell erkennt, wie er die Leute dort übervorteilen oder ihnen sonstige deftige, gerne skatologische Streiche spielen kann. So kommt er u.a. nach Magdeburg, Hildesheim, Nürnberg, Halberstadt, Braunschweig, Lüneburg, Marburg, Erfurt, Sangerhausen, Bamberg, Frankfurt, Quedlinburg, Rostock, Wismar, Berlin, Stendal, Aschersleben, Leipzig, Lübeck, Dresden, Hannover, Bremen, Hamburg, Eisleben, Köln und Mölln, sowie nach Dänemark, Polen, Böhmen (Prag), Pommern, Italien (Rom), Frankreich (Paris) und Belgien (Antwerpen). An manchen Orten erlebt er mehrere Abenteuer hintereinander, manche Orte sucht er in größerem Abstand wiederholt auf.

Der Pfaffe von Kalenberg im Federkleid am Donauufer.

Querverbindungen

Eulenspiegel-Streiche, die auch mit anderen Figuren, früheren wie späteren, verknüpft werden, sind z.B.:

  • die 8. Historie, in der er Hühner an kreuzweise verknüpften Stricken fängt (vgl. Max und Moritz, diese beiden, und die arme Witwe Bolte)
  • die 14. Historie, in der er die Schaulustigen verhöhnt, weil sie glaubten, er könne fliegen (vgl. die spätmittelalterliche Witzesammlung Facetiae von Poggio Bracciolini, entstanden zwischen 1438 und 1452, Anekdote 49, wo die Szene in Bologna spielt, oder den Pfaffen von Kalenberg, Verse 423ff, wo der Pfaffe behauptet, er könne über die Donau fliegen, um die neugierigen Bauern mit seinem alten Wein abzufüllen, nur um sie dann auszulachen)
  • die 27. Historie, in der sich nur eine Törin zu sagen traut, dass er gar nichts gemalt hat (vgl. Des Kaisers neue Kleider)
  • die 28. Historie, in der er vor einem Gremium von missgünstigen Gelehrten Fragen zur Erde und zum Weltall beantwortet (vgl. Hodscha Nasreddin)
  • die 32. Historie, in der er einen Steg manipuliert, so dass seine Verfolger in den Burggraben purzeln (vgl. erneut Max und Moritz, gar nicht träge, diesmal vs. Meister Böck)
  • die 80. Historie, in der er mit dem Klang von Geld bezahlt (vgl. erneut Hodscha Nasreddin)

Die 27. Historie (Ahnengalerie in Marburg), 28. Historie (Gelehrtenwettstreit in Prag), 29. Historie (Lese-Esel in Erfurt) und 31. Historie (Spendenpredigt) sind offenbar alle dem Pfaffen Amis entlehnt und folgen daher nicht zufällig direkt aufeinander.

Übertragungen

Übertragungen des Volksbuchs ins Neuhochdeutsche, oft verknüpft mit einer gewissen Überarbeitung, gibt es reichlich. Es ist daher nicht immer ohne weiteres festzustellen, welche von ihnen bei der jeweiligen Umsetzung des Stoffs im MOSAIK und seinem Umfeld genutzt wurde. Hier im Artikel wird die Übertragung von Siegfried H. Sichtermann aus dem Insel-Verlag als Vergleich herangezogen. Bei der Fanfiction-Geschichte Die Abrafaxe, und wie Eulenspiegel vorgab, dass er zu Magdeburg von der Laube fliegen wollte hat die Auswahl von Eulenspiegel-Geschichten aus den Magdeburger Sagen von Otto Fuhlrott zugrundegelegen.

Eulenspiegel in der Runkel- und der Adria-Serie

Bei den diversen Ankündigungen für künftige Abenteuer im MOSAIK, auf den Rückseiten der Runkel-Nachdrucke und zu Beginn von Heft 1/76, wurde auch schon Till Eulenspiegel genannt. Näher wird auf seine Streiche jedoch nicht eigegangen, so dass hierfür sicherlich keine vorherige Lektüre des Volksbuchs nötig war.

Eulenspiegel in der Jubiläums-Serie

MOSAIK 589, das erste Heft der Jubiläums-Serie, bietet sechs Eulenspiegel-Streiche, je einen in Magdeburg und Bayern und je zwei in Erfurt und Marburg, die auf sechs verschiedenen Historien der Vorlage beruhen: Magdeburg, Marburg, Pommern, Lübeck und zweimal Erfurt. Die grundlegende Struktur der Vorlage wird jeweils beibehalten, doch werden durchaus einige Sachen geändert, gekürzt oder hinzugefügt. Die Auswahl und Reihenfolge der einzelnen Geschichten erfolgte dabei recht frei; d.h. die Reihenfolge im MOSAIK stimmt nicht mit der im Kurtzweilig Lesen überein. Das ist insofern kein Problem, als die Original-Historien abgesehen von gelegentlichen kurzen Überleitungssätzen nicht aufeinander aufbauen. In der folgenden Besprechung der relevanten Stellen wird chronologisch nach der MOSAIK-Handlung vorgegangen.

Für die kurze Szene, in der sich Eulenspiegel beim Bergabwandern ärgert und beim Bergaufwandern freut, konnte noch keine Vorlage aus dem Kurtzweilig Lesen gefunden werden. Diese Geschichte ist aber tatsächlich in diversen Eulenspiegel-Büchern und -Gedichten enthalten.

Magdeburg - 14. Historie

Im MOSAIK erreichen die Abrafaxe im Jahre 1334 Magdeburg, wo Till Eulenspiegel gerade auf dem Dach des Rathauses steht und die Leute unten verhöhnt, da sie geglaubt hätten, er könne fliegen. Sie helfen ihm, den aufgebrachten Bürgern zu entkommen, unter denen sich eine Nebenhandlung um einen Wurstdieb entfaltet.

Außer in der hinzugefügten Nebenhandlung mit den verschiedenen Bürgern stimmt das MOSAIK stark mit der Vorlage im Kurtzweilig Lesen überein. Insbesondere ist Eulenspiegels Spottrede fast 1:1 übernommen worden - abgesehen davon, dass einige Begriffe modernisiert wurden und sich Eulenspiegel statt mit einer Gans mit einem Storch vergleicht.

Die ganze Geschichte ist, wie oben beschrieben, ein Wandermotiv, das vor Eulenspiegel schon mehrfach von anderen Schalken berichtet wird. Im Anschluss an den Originaltext aus dem Kurtzweilig Lesen samt neuhochdeutscher Übertragung folgen daher hier noch die Parallelstellen aus den Facetiae von Poggio Bracciolini und dem Pfaffen von Kalenberg von Philipp Frankfurter, jeweils mit Übersetzung.

Originaltext im Kurtzweilig Lesen: Übertragung von Siegfried H. Sichtermann (mit abweichender Historienzählung):
Die XIIII. history sagt wie Vlenspiegel
vß gab / das er zů Megdburg von der lauben fliegen wolt / vnd die zůseher mit schimpffred ab wise.

BAld nach diser zeit als vlenspiegel ein sigrist wz gesein. Da kame er geen Megdburg / vnd treib vil anschleg / vnd sein nom ward da von erst bekant / das man von Vlenspiegel wußt zesagen / da ward er angefochten von den besten der burger von der stat dz er solt etwz abenthür treiben / da sagt er / er wolt es thun / vnd wolt vff dz rathuß / vnd von der lauben fliegen / da ward ein geschrei in der stat / dz sich iung vnd alt samlete vff dem marckt / vnd wolten es sehen. Also stunde Vlenspiegel vff der lauben von dem rathuß / vnd bewegt sich mit den armen / vnd gebar eben als ob er fliegen wolt. Die lüt stůnden theten augen vnd müler vff / vnd meinten er wolt fliegen Da lacht vlenspiegel vnd sprach. Ich meinte es wer kein thor oder nar mer in der welt dan ich. So sih ich wol / dz hie schier die gantz stat vol thoren ist / vnd wann ir mir alle sagten dz ir fliegen wolten ich glaubt es nit / ich bin doch weder ganß noch fogel / so hon ich kein fettich / vnd on fettich oder federn kan nieman fliegen. Nun sehen ir offenbar / dz es erlogen ist / vnd lieff da von der lauben / vnd ließ dz volck eins teils flůchende / das ander teil lachende vnd sprachen. Das ist ein schalckßnarr noch dann so hat er war gesagt.

Die 16. Historie sagt, wie Eulenspiegel in Magdeburg verkündete, vom Rathauserker fliegen zu wollen, und wie er die Zuschauer mit Spottreden zurückwies.

Bald nach dieser Zeit, als Eulenspiegel ein Küster gewesen war, kam er in die Stadt Magdeburg und vollführte dort viele Streiche. Davon wurde sein Name so bekannt, daß man von Eulenspiegel allerhand zu erzählen wußte. Die angesehensten Bürger der Stadt baten ihn, er solle etwas Abenteuerliches und Gauklerisches treiben. Da sagte er, er wolle das tun und auf das Rathaus steigen und vom Erker herabfliegen. Nun erhob sich ein Geschrei in der ganzen Stadt. Jung und alt versammelten sich auf dem Markt und wollten sehen, wie er flog.

Eulenspiegel stand auf dem Erker des Rathauses, bewegte die Arme und gebärdete sich, als ob er fliegen wolle. Die Leute standen, rissen Augen und Mäuler auf und meinten tatsächlich, daß er fliegen würde. Da begann Eulenspiegel zu lachen und rief: »Ich meinte, es gäbe keinen Toren oder Narren in der Welt außer mir. Nun sehe ich aber, daß hier die ganze Stadt voller Toren ist. Und wenn ihr mir alle sagtet, daß ihr fliegen wolltet, ich glaubte es nicht. Aber ihr glaubt mir, einem Toren! Wie sollte ich fliegen können? Ich bin doch weder Gans noch Vogel! Auch habe ich keine Fittiche, und ohne Fittiche oder Federn kann niemand fliegen. Nun seht ihr wohl, daß es erlogen ist.«

Damit kehrte er sich um, lief vom Erker und ließ das Volk stehen. Die einen fluchten, die anderen lachten und sagten: »Ist er auch ein Schalksnarr, so hat er dennoch wahr gesprochen!«

Erfurt und die Fleischer - 60. Historie

Diese Geschichte folgt im MOSAIK zunächst sehr eng der Vorlage, inklusive der neidischen anderen Metzger, und auch bildlich scheint die Ladenzeile auf der Krämerbrücke im MOSAIK dem Holzschnitt im Kurtzweilig Lesen nachempfunden zu sein. Die Auflösung der Episode mit dem Marktbüttel hingegen ist fürs MOSAIK hinzuerfunden worden.

Originaltext im Kurtzweilig Lesen: Übertragung von Siegfried H. Sichtermann (mit abweichender Historienzählung):
Die .LX histori sagt wie Vlenspiegel
die metziger zů erdford vmb ein braten betrog.

VLenspiegel kunt sein schalckheit nit laßen / als er gen Ertford kam wan er ward bald bekant von burgern vnd studenten. Er gieng eins by die metzig da dz fleisch in feil was. Da sprach ein metziger zů im / das er etwz koffen solt dz er mit im zů huß trüg vlenspiegel sagt zů im Was sol ich mit mir nemen. Der metziger sprach / ein braten. Vlenspiegel sagt ia / vnd nimpt den braten bei dem end / vnd gieng damit dahin. Der metziger lieff im nach vnnd sagt zů im / Nein nit also / du must den braten bezalen. Vlenspiegel sprach von der bezalung haben ir mir nit gesagt / sunder ir sagten ob ich nit etwas wolt mit mir nemen / vnd het in gewisen vff den braten das er den mit im nemen solt zů huß / das wolt er beweisen mit seim nach buren / die dar bei stunden. Die ander metziger kamen darzů / vnd sprachen vß haß Ja es wer war / die andern waren im gram / darumb dan wan iemans kam zů den andern metzigern vnd wolt etwas kauffen / so riefft er den lüten zů im / vnd zůg inen die ab / darumb stifften sie dar zů / das Vlenspiegel den braten behielt. Die weil der metziger also zanckt nam Vlenspiegel den braten vnder den rock vnd gieng darmit hinweg / vnd ließ sie sich darüber vertragen so best sie kvnten.

Die 58. Historie sagt, wie Eulenspiegel in Erfurt einen Metzger um einen Braten betrog.

Eulenspiegel konnte seine Schalkheit nicht lassen, als er nach Erfurt kam, wo er bald mit Bürgern und Studenten bekannt wurde.

Einmal ging er zu den Fleischbänken, wo das Fleisch feilgeboten wurde. Da sprach ein Metzger ihn an, ob er nicht etwas kaufen wolle, das er mit sich nach Hause trüge. Eulenspiegel sagte zu ihm: »Was soll ich mit mir nehmen?« Der Metzger sprach: »Einen Braten.« Eulenspiegel sagte ja, nahm einen Braten bei einem Ende und ging damit davon. Der Metzger lief ihm nach und sprach zu ihm: »Nein, nicht so! Du mußt den Braten bezahlen!« Eulenspiegel sprach: »Von einer Bezahlung habt Ihr mir nichts gesagt, sondern Ihr sagtet, ob ich nicht etwas mit mir nehmen wolle.« Der Metzger habe auf den Braten gewiesen, damit er den mit sich nach Hause nehmen solle. Das wolle er mit des Metzgers Nachbarn beweisen, die dabeistanden.

Die andern Metzger kamen dazu und sagten aus Haß, daß es wahr sei. Denn die andern waren dem Metzger feindlich gesonnen. Wenn jemand nämlich zu ihnen kam und etwas kaufen wollte, rief er die Leute zu sich und zog sie damit von ihnen ab. Darum stimmten sie zu, daß Eulenspiegel den Braten behielte. Während der Metzger also zankte, nahm Eulenspiegel den Braten unter den Rock, ging damit hinweg und ließ sie sich darüber einigen, so gut sie konnten.

Erfurt und der Esel - 29. Historie

Diese Eulenspiegelei steht im Kurtzweilig Lesen an viel früherer Stelle im Text, wird im MOSAIK aber wegen desselben Schauplatzes Erfurt an die Metzger-Episode angehängt. Der Erstkontakt zwischen Eulenspiegel und den Erfurter Professoren wird im MOSAIK etwas umgestaltet - während die Sache mit dem Esel in der Vorlage eine Idee der Professoren ist, um Eulenspiegel zu übertölpeln, schlägt er sie ihnen im MOSAIK von selbst vor. Die Probe aufs Exempel unterscheidet sich ebenfalls etwas. Während der Lese-Esel im Kurtzweilig Lesen nur an einem Tag bis 3 Uhr nachmittags nichts zu essen bekommt, muss das arme Vieh im MOSAIK ganze drei Tage fasten. Dafür freut es sich im MOSAIK über die zwischen den Buchseiten gefundenen Haferkörner, während es in der Vorlage über deren Abwesenheit verärgert ist - der I-A-I-A-Schrei ist derselbe.

Schön ist, dass man aus der Vorlage den Namen des Erfurter Gasthauses erfährt, in dem Eulenspiegel und die Abrafaxe logieren: Zum Turm.

Die ganze Episode im Kurtzweilig Lesen basiert, wie einige weitere benachbarte Historien, auf einer Passage im Narrenroman Der Pfaffe Amis von dem Stricker aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Dort spielt die Szene in England, woher der Pfaffe Amis stammt. Ein Ausschnitt daraus wird im Anschluss an den Text der Historie wiedergegeben, im mittelhochdeutschen Original und in der frühneuhochdeutschen Fassung des Erstdrucks, jeweils mit Übertragung ins Neuhochdeutsche.

Originaltext im Kurtzweilig Lesen: Übertragung von Siegfried H. Sichtermann:
Die .XXIX histori sagt wie Vlenspiegel
zů Ertfort ein esel lesen lert / in einem alten psalter.

VLenspiegel het groß verlangen gen Ertford als er die schalckheit zů Brag het vß gericht wan er besorgt sich dz sie im nach ylten. Als er nun gen Ertford kam da dan auch ein mercklich grosse vnd berümpte vniversitet ist. Da selb schlůg Vlenspiegel sein brieff auch an / vnd die Collegaten der vniuersitet / hetten vil gehoert von seinen listen / Vnd ratschlůgen was sie im fürgeben moechten / Vff das es inen nit gieng wie den von Brag mit im gangen was / vnd mit schanden bestanden Nun warden sie zů rat / das sie Vlenspiegeln ein Esel in die leer thůn wolten / dan es sein vil Esel zů Erdtfurt alt vnd iung. Sie besanten vlenspiegeln vnd sprachen zů im / magister ir hon kunstliche brieff an geschlagen / dz ir ein yegliche creatur in kurtzen zeiten woellen leeren schreiben vnd lesen / so seind die herren von der vniuersitet hie vnd woellen euch ein iungen esel in die leer thůn / trüwen ir in auch zů leeren. Er sprach ia / aber er müst zeit dazů hon darumb so es ein vnredlich vnd vnuernünfftig creatur wer. Das wurden sie mit im zů friden vff .xx. iar. Vlenspiegel gedacht vnser ist drei / stirbet der Rector / so lig ich frei / stirb dann ich / wer wil mich manen / stirbt dann mein discipel / so bin ich aber ledig / vnd name das an. vnd galt fünff .c. alter schock das zů thun. Des gaben sie im etlich gold daruff. Also nam vlenspiegel den esel an / vnd zoch zum Tornen in die herberg / da zu der zeit was ein seltzamer wirt. Also bestalt er einen stall allein für seinen schüler / vnd vberkam ein alten psalter / den leget er im in die kripff / vnd zwischen ieglichs blat legt er haberen des ward der esel innen / vnd warff die bletter mitt dem maul vmbher / vmb des haberns willen / vnd so er dann kein haberen mer fand zwischen den bletteren / so růfft er. I.a. I.a. Da vlenspiegel das merckte von dem esel / da gieng er zů dem Rector vnd sprach. Herr der Rector wann woellen ir eins sehen / was mein schůler macht. Der Rector sprach. Lieber magister will er sich der leeren auch annemen. Vlenspiegel sprach. Er ist vß der maßen von grober art. Vnd ist mir seer schwer in zů leeren. Jedoch so hab ich mit grossem fleiß vnd arbeit darzů gethon / das er etlich bůchstaben / vnd sunderlich etlich vocal kant / vnd nemmen kan. Woellen ir so gon mitt mir so sollen ir das hoeren vnd sehen. Also het der gůt schůler die zeit gefastet / bis vff drei nach mittag. Als Vlenspiegel nun mit dem Rector vnd etlichen magistri kam / da legt er seinem schůler ein nüw bůch fůr. So bald er das in der kripffen fand / da warff er bald die bletter hin vnd her / den habern sůchen / als er nüt fand / da begunde er mit lauter stym zů schryen: I.a.i.a. Da sprach vlenspiegel. Sehen lieber herr die zwen vocal .I. vnd .A. die kan er ietzundt / ich hoff er sol noch gůt werden. Also starb der Rector in kurtzen zeiten / darnach verließ vlenspiegel seinen schůler / vnd ließ in gon / als in sein natur vßweißet. Also zoch Vlenspiegel mit dem vffgenomnen gelt hinweg / vnd gedacht soltu die esel zů Erdtfurt all weiß machen / das würd vil leibs bruchen / er moecht es auch nitt wol thůn / vnd ließ es also bleiben.

Die 29. Historie sagt, wie Eulenspiegel in Erfurt einen Esel in einem alten Psalter lesen lehrte.

Eulenspiegel hatte große Eile, nach Erfurt zu kommen, nachdem er in Prag die Schalkheit getan hatte, denn er befürchtete, daß sie ihm nacheilten.

Als er nach Erfurt kam, wo ebenfalls eine recht große und berühmte Universität ist, schlug Eulenspiegel auch dort seine Zettel an. Und die Lehrpersonen der Universität hatten von seinen Listen viel gehört. Sie beratschlagten, was sie ihm aufgeben könnten, damit es ihnen nicht so erginge, wie es denen zu Prag mit ihm ergangen war, und damit sie nicht mit Schande bestanden. Und sie beschlossen, daß sie Eulenspiegel einen Esel in die Lehre geben wollten, denn es gibt viele Esel in Erfurt, alte und junge. Sie schickten nach Eulenspiegel und sprachen zu ihm: »Magister, Ihr habt gelehrte Schreiben angeschlagen, daß Ihr eine jegliche Kreatur in kurzer Zeit Lesen und Schreiben lehren wollt. Darum sind die Herren von der Universität hier und wollen Euch einen jungen Esel in die Lehre geben. Traut Ihr es Euch zu, auch ihn zu lehren?« Eulenspiegel sagte ja, aber er müsse Zeit dazu haben, weil es eine des Redens unfähige und unvernünftige Kreatur sei. Darüber wurden sie mit ihm einig auf zwanzig Jahre.

Eulenspiegel dachte: Unser sind drei; stirbt der Rektor, so bin ich frei; sterbe ich, wer will mich mahnen? Stirbt mein Schüler, so bin ich ebenfalls ledig. Er nahm das also an und forderte fünfhundert alte Schock dafür. Und sie gaben ihm etliches Geld im voraus.

Eulenspiegel nahm den Esel und zog mit ihm in die Herberge »Zum Turm«, wo zu der Zeit ein seltsamer Wirt war. Er bestellte einen Stall allein für seinen Schüler, besorgte sich einen alten Psalter und legte den in die Futterkrippe. Und zwischen jedes Blatt legte er Hafer. Dessen wurde der Esel inne und warf um des Hafers willen die Blätter mit dem Maul herum. Wenn er dann keinen Hafer mehr zwischen den Blättern fand, rief er: »I - A, I - A!« Als Eulenspiegel das bei dem Esel bemerkte, ging er zu dem Rektor und sprach: »Herr Rektor, wann wollt Ihr einmal sehen, was mein Schüler macht?« Der Rektor sagte: »Lieber Magister, will er die Lehre denn annehmen?« Eulenspiegel sprach: »Er ist von unmäßig grober Art, und es wird mir sehr schwer, ihn zu lehren. jedoch habe ich es mit großem Fleiß und vieler Arbeit erreicht, daß er einige Buchstaben und besonders etliche Vokale kennt und nennen kann. Wenn Ihr wollt, so geht mit mir, Ihr sollt es dann hören und sehen.«

Der gute Schüler hatte aber den ganzen Tag gefastet bis gegen drei Uhr nachmittags. Als nun Eulenspiegel mit dem Rektor und einigen Magistern kam, da legte er seinem Schüler ein neues Buch vor. Sobald dieser es in der Krippe bemerkte, warf er die Blätter hin und her und suchte den Hafer. Als er nichts fand, begann er mit lauter Stimme zu schreien: »I - A, I - A!« Da sprach Eulenspiegel: »Seht, lieber Herr, die beiden Vokale I und A, die kann er jetzt schon; ich hoffe, er wird noch gut werden.«

Bald danach starb der Rektor. Da verließ Eulenspiegel seinen Schüler und ließ ihn als Esel gehen, wie ihm von Natur bestimmt war. Eulenspiegel zog mit dem erhaltenen Geld hinweg und dachte: solltest du alle Esel zu Erfurt klug machen, das würde viel Zeit brauchen. Er mochte es auch nicht gerne tun und ließ es also bleiben.

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