Rhampsinit und der Meisterdieb
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- | Im zweiten Buch (''Euterpe'') seiner ''Historien'' befasste sich Herodot (5. Jhd. v.u.Z.) mit der Frühgeschichte von [[Ägypten]]. Es stellt eine Art Exkurs zur Schilderung der Eoberung des Landes durch den [[Persien|Perserköng]] [[Kapitän Kombyses|Kambyses]] dar. Die Abschnitte 121 bis 123 behandeln König Rhampsinit, Nachfolger des sagenhaften Proteus (zur Zeit des [[Trojanischer Krieg|Trojanischen Krieges]]) und Vorgänger des Cheops (des Erbauers der großen [[Pyramide von Gizeh]]). Beim Namen Ῥαμψίνιτος ''Rhampsinitos'' handelt es sich wohl um eine [[Verballhornungen im Mosaik|Verballhornung]] von [https://de.wikipedia.org/wiki/ | + | Im zweiten Buch (''Euterpe'') seiner ''Historien'' befasste sich Herodot (5. Jhd. v.u.Z.) mit der Frühgeschichte von [[Ägypten]]. Es stellt eine Art Exkurs zur Schilderung der Eoberung des Landes durch den [[Persien|Perserköng]] [[Kapitän Kombyses|Kambyses]] dar. Die Abschnitte 121 bis 123 behandeln König Rhampsinit, Nachfolger des sagenhaften Proteus (zur Zeit des [[Trojanischer Krieg|Trojanischen Krieges]]) und Vorgänger des Cheops (des Erbauers der großen [[Pyramide von Gizeh]]). Beim Namen Ῥαμψίνιτος ''Rhampsinitos'' handelt es sich wohl um eine [[Verballhornungen im Mosaik|Verballhornung]] von [https://de.wikipedia.org/wiki/Ramses_III. Pharao Rhamses II.] (ägyptisch ''Ramessu'') und der [https://de.wikipedia.org/wiki/Neith_(%C3%A4gyptische_Mythologie) Göttin Neith]. Ramses II. gehörte freilich der 19. Dynastie an, Cheops hingegen der 4. Dynastie, kann also niemals sein Nachfolger gewesen sein. Abschnitt 121 nun ist ganz der Sage vom Schatzhaus des Rhampsinit gewidmet (in der Übersetzung von August Horneffer, überarbeitet von Wilhelm Haussig): |
{{Zitat|Nach Proteus wurde Rhampsinitos König. [...]<br>[121 A] Dieser König war sehr reich, und keiner der späteren Könige besaß mehr Geld als er oder kam ihm darin auch nur nahe. Nun wollte er seine Schätze an einem sicheren Orte verwahren und baute eine steinerne Kammer, deren eine Wand an die Außenseite des Königspalastes stieß. Der Erbauer aber hinterging ihn und fügte die Steine so, daß einer von einem oder zwei Männern leicht aus der Wand herausgenommen werden konnte. Und als die Kammer fertig war, speicherte der König seine Schätze darin auf. Nach einiger Zeit fühlte der Baumeister sein Lebensende herannahmen und rief seine Söhne - er hatte deren zwei - zu sich. Er erzählte ihnen, wie er für sie gesorgt und sie reich gemacht hätte, indem er beim Bau der königlichen Schatzkammer jene List angewandt hätte. Genau erklärte er, wie der Stein herauszunehmen sei, und gab ihnen die Maße, wo er läge. Wenn sie es wohl behielten, sagte er, würden sie zu Schatzmeistern des Königs werden.<br>[121 B] Er starb, und die Söhne machten sich, ohne lange zu zaudern, eines Nachts auf, gingen zum Königspalast, fanden den Stein in der Wand der Kammer, hoben ihn leicht heraus und nahmen sich eine Menge von den Schätzen. Als nun der König einmal in die Kammer ging, wunderte er sich, daß in den Gefäßen Gold fehle, und konnte doch niemandem die Schuld geben, denn die Siegel waren unverletzt und die Türe verschlossen. Wie nun die Schätze allmählich immer mehr abnahmen - denn die Diebe hörten mit ihren Einbrüchen nicht auf -, tat er folgendes. Er ließ Schlingen machen und sie rings um die goldgefüllten Gefäße legen. Als nun die Diebe zu ihrer gewohnten Zeit herbeikamen und einer von ihnen in die Kammer hineinstieg und zu den Gefäßen ging, fing er sich sofort in der Schlinge. Als er seine böse Lage gewahr wurde, rief er gleich seinen Bruder, sagte ihm, was geschehen sei, und hieß ihn eiligst hereinsteigen und ihm den Kopf abschlagen, damit man ihn nicht erkenne und auch den anderen ums Leben bringe. Das schien diesem wohlgesprochen. Er tat, wie ihm jener geheißen, setzte den Stein an seinen Platz und ging heim mit dem Kopfe seines Bruders.<br>[121 C] Als es Tag wurde, ging der König in die Kammer und erschrak über den kopflosen Leichnam in der Schlinge; denn die Kammer war unverletzt, und keine Öffnung zum Hineingehen und Herausgehen war vorhanden. Um sich Klarheit zu verschaffen, tat er folgendes. Er ließ den Leichnam an die Stadtmauer hängen, stellte Wächter dabei auf und befahl ihnen, wenn sie jemanden um den Toten weinen oder klagen sähen, ihn zu ergreifen und vor ihn zu führen. Als nun der Leichnam des Diebes dahing, wurde seine Mutter sehr traurig; sie sprach zu ihrem überlebenden Sohne und gebot ihm, es auf irgendeine Weise möglich zu machen, den Leib des Bruders loszumachen und herbeizubringen. Wenn er ihr nicht gehorche, würde sie zum König gehen, drohte sie, und anzeigen, daß er die Schätze habe.<br>[121 D] Weil die Mutter so heftig in ihn drang und er sie durch nichts von ihrem Verlangen abbringen konnte, ersann der Sohn eine List. Er rüstete seine Esel, füllte Schläuche mit Wein, lud sie den Eseln auf und zog davon. Als er bei den Wächtern des hängenden Leichnams vorüberkam, zog er an zwei oder drei Zipfeln seiner Schläuche und löste die Knoten. Der Wein floß heraus, und er schlug sich laut schreiend an den Kopf, als wüßte er nicht, an welchen Esel und Schlauch er sich zuerst machen sollte. Als die Wächter die Menge Wein entlaufen sahen, kamen sie mit Krügen an die Straße gelaufen, fingen den fließenden Wein auf und freuten sich dessen. Er stellte sich zornig und schmähte sie alle der Reihe nach; aber die Wächter suchten ihn zu begütigen, und nach einer Weile tat er, als sei sein Zorn verflogen. Schließlich führte er die Esel von der Straße und brachte die Lasten wieder in Ordnung. Sie sprachen weiter miteinander, und als ihn einer durch Späße zum Lachen brachte, gab er ihnen noch einen Schlauch. Gleich lagerten sie sich zum Trinken, nahmen auch ihn und hießen ihn mit ihnen trinken. Er ließ sich bewegen und blieb dort. Als sie ihm nun beim Trinken alle Freundlichkeiten erwiesen, gab er ihnen noch einen weiteren Schlauch. Sie sprachen dem Wein wacker zu, wurden trunken und, bewältigt vom Schlaf, blieben sie dort, wo sie getrunken hatten, liegen. Als es Nacht war, nahm nun jener den Leib des Bruders herab und, um ihnen einen Schimpf anzutun, schor er allen Wächtern die rechte Wange kahl. Dann lud er den Leichnam auf seine Esel und trieb sie nach Hause. So hatte er den Wunsch seiner Mutter erfüllt.<br>[121 E] Als dem König der Diebstahl des Leichnams gemeldet wurde, ergrimmte er. Er wollte um jeden Preis den Täter ausfindig machen und soll folgendes Mittel dazu angewendet haben - ich kann es aber nicht glauben -: er hieß seine Tochter in ein Freudenhaus gehen und sich jedem, der käme, preisgeben. Aber vorher solle sie jeden nötigen, ihr die verschlagenste und die verruchteste Tat zu erzählen, die er in seinem Leben begangen habe. Wenn ihr dann einer den Streich mit jenem Diebe erzähle, solle sie ihn festhalten und nicht wieder fortlassen. Die Tochter tat, wie ihr Vater befahl, und als der Dieb hörte, weshalb der König diesen Befehl gegeben, wollte er noch listiger sein als der König und tat folgendes. Er schnitt der frischen Leiche den Arm an der Schulter ab und nahm ihn unter dem Mantel mit fort. Als er zu der Königstochter kam und sie dieselbe Frage an ihn tat wie an die anderen, erzählte er, die schändlichste Tat seines Lebens sei, daß er seinem in des Königs Schatzkammer in der Schlinge gefangenen Bruder den Kopf abgeschlagen, und seine verschlagenste Tat sei, daß er die Wächter trunken gemacht und die an der Mauer hängende Leiche seines Bruders abgenommen habe. Als sie das hörte, griff sie nach ihm, aber der Dieb hielt ihr in der Dunkelheit den Arm des Toten hin. Sie faßte ihn und meinte, den Arm des Lebenden zu halten. Der Dieb ließ den Arm in ihrer Hand und entwich durch die Türe.<br>[121 F] Als auch das dem König gemeldet wurde, war er voller Staunen über die Klugheit und die Keckheit dieses Menschen. Da schickte er denn Boten in alle Städte und ließ verkünden, er sichere dem Dieb Straflosigkeit zu und verspräche ihm eine hohe Belohnung, wenn er vor sein Angesicht träte. Der Dieb ging voller Vertrauen zum König, Rhampsinitos aber bewunderte ihn hoch und gab ihm seine Tochter, weil er der klügste Mensch auf Erden sei. Denn, meinte er, die Ägypter seien klüger als die anderen Völker, er aber sei noch klüger als die Ägypter.}} | {{Zitat|Nach Proteus wurde Rhampsinitos König. [...]<br>[121 A] Dieser König war sehr reich, und keiner der späteren Könige besaß mehr Geld als er oder kam ihm darin auch nur nahe. Nun wollte er seine Schätze an einem sicheren Orte verwahren und baute eine steinerne Kammer, deren eine Wand an die Außenseite des Königspalastes stieß. Der Erbauer aber hinterging ihn und fügte die Steine so, daß einer von einem oder zwei Männern leicht aus der Wand herausgenommen werden konnte. Und als die Kammer fertig war, speicherte der König seine Schätze darin auf. Nach einiger Zeit fühlte der Baumeister sein Lebensende herannahmen und rief seine Söhne - er hatte deren zwei - zu sich. Er erzählte ihnen, wie er für sie gesorgt und sie reich gemacht hätte, indem er beim Bau der königlichen Schatzkammer jene List angewandt hätte. Genau erklärte er, wie der Stein herauszunehmen sei, und gab ihnen die Maße, wo er läge. Wenn sie es wohl behielten, sagte er, würden sie zu Schatzmeistern des Königs werden.<br>[121 B] Er starb, und die Söhne machten sich, ohne lange zu zaudern, eines Nachts auf, gingen zum Königspalast, fanden den Stein in der Wand der Kammer, hoben ihn leicht heraus und nahmen sich eine Menge von den Schätzen. Als nun der König einmal in die Kammer ging, wunderte er sich, daß in den Gefäßen Gold fehle, und konnte doch niemandem die Schuld geben, denn die Siegel waren unverletzt und die Türe verschlossen. Wie nun die Schätze allmählich immer mehr abnahmen - denn die Diebe hörten mit ihren Einbrüchen nicht auf -, tat er folgendes. Er ließ Schlingen machen und sie rings um die goldgefüllten Gefäße legen. Als nun die Diebe zu ihrer gewohnten Zeit herbeikamen und einer von ihnen in die Kammer hineinstieg und zu den Gefäßen ging, fing er sich sofort in der Schlinge. Als er seine böse Lage gewahr wurde, rief er gleich seinen Bruder, sagte ihm, was geschehen sei, und hieß ihn eiligst hereinsteigen und ihm den Kopf abschlagen, damit man ihn nicht erkenne und auch den anderen ums Leben bringe. Das schien diesem wohlgesprochen. Er tat, wie ihm jener geheißen, setzte den Stein an seinen Platz und ging heim mit dem Kopfe seines Bruders.<br>[121 C] Als es Tag wurde, ging der König in die Kammer und erschrak über den kopflosen Leichnam in der Schlinge; denn die Kammer war unverletzt, und keine Öffnung zum Hineingehen und Herausgehen war vorhanden. Um sich Klarheit zu verschaffen, tat er folgendes. Er ließ den Leichnam an die Stadtmauer hängen, stellte Wächter dabei auf und befahl ihnen, wenn sie jemanden um den Toten weinen oder klagen sähen, ihn zu ergreifen und vor ihn zu führen. Als nun der Leichnam des Diebes dahing, wurde seine Mutter sehr traurig; sie sprach zu ihrem überlebenden Sohne und gebot ihm, es auf irgendeine Weise möglich zu machen, den Leib des Bruders loszumachen und herbeizubringen. Wenn er ihr nicht gehorche, würde sie zum König gehen, drohte sie, und anzeigen, daß er die Schätze habe.<br>[121 D] Weil die Mutter so heftig in ihn drang und er sie durch nichts von ihrem Verlangen abbringen konnte, ersann der Sohn eine List. Er rüstete seine Esel, füllte Schläuche mit Wein, lud sie den Eseln auf und zog davon. Als er bei den Wächtern des hängenden Leichnams vorüberkam, zog er an zwei oder drei Zipfeln seiner Schläuche und löste die Knoten. Der Wein floß heraus, und er schlug sich laut schreiend an den Kopf, als wüßte er nicht, an welchen Esel und Schlauch er sich zuerst machen sollte. Als die Wächter die Menge Wein entlaufen sahen, kamen sie mit Krügen an die Straße gelaufen, fingen den fließenden Wein auf und freuten sich dessen. Er stellte sich zornig und schmähte sie alle der Reihe nach; aber die Wächter suchten ihn zu begütigen, und nach einer Weile tat er, als sei sein Zorn verflogen. Schließlich führte er die Esel von der Straße und brachte die Lasten wieder in Ordnung. Sie sprachen weiter miteinander, und als ihn einer durch Späße zum Lachen brachte, gab er ihnen noch einen Schlauch. Gleich lagerten sie sich zum Trinken, nahmen auch ihn und hießen ihn mit ihnen trinken. Er ließ sich bewegen und blieb dort. Als sie ihm nun beim Trinken alle Freundlichkeiten erwiesen, gab er ihnen noch einen weiteren Schlauch. Sie sprachen dem Wein wacker zu, wurden trunken und, bewältigt vom Schlaf, blieben sie dort, wo sie getrunken hatten, liegen. Als es Nacht war, nahm nun jener den Leib des Bruders herab und, um ihnen einen Schimpf anzutun, schor er allen Wächtern die rechte Wange kahl. Dann lud er den Leichnam auf seine Esel und trieb sie nach Hause. So hatte er den Wunsch seiner Mutter erfüllt.<br>[121 E] Als dem König der Diebstahl des Leichnams gemeldet wurde, ergrimmte er. Er wollte um jeden Preis den Täter ausfindig machen und soll folgendes Mittel dazu angewendet haben - ich kann es aber nicht glauben -: er hieß seine Tochter in ein Freudenhaus gehen und sich jedem, der käme, preisgeben. Aber vorher solle sie jeden nötigen, ihr die verschlagenste und die verruchteste Tat zu erzählen, die er in seinem Leben begangen habe. Wenn ihr dann einer den Streich mit jenem Diebe erzähle, solle sie ihn festhalten und nicht wieder fortlassen. Die Tochter tat, wie ihr Vater befahl, und als der Dieb hörte, weshalb der König diesen Befehl gegeben, wollte er noch listiger sein als der König und tat folgendes. Er schnitt der frischen Leiche den Arm an der Schulter ab und nahm ihn unter dem Mantel mit fort. Als er zu der Königstochter kam und sie dieselbe Frage an ihn tat wie an die anderen, erzählte er, die schändlichste Tat seines Lebens sei, daß er seinem in des Königs Schatzkammer in der Schlinge gefangenen Bruder den Kopf abgeschlagen, und seine verschlagenste Tat sei, daß er die Wächter trunken gemacht und die an der Mauer hängende Leiche seines Bruders abgenommen habe. Als sie das hörte, griff sie nach ihm, aber der Dieb hielt ihr in der Dunkelheit den Arm des Toten hin. Sie faßte ihn und meinte, den Arm des Lebenden zu halten. Der Dieb ließ den Arm in ihrer Hand und entwich durch die Türe.<br>[121 F] Als auch das dem König gemeldet wurde, war er voller Staunen über die Klugheit und die Keckheit dieses Menschen. Da schickte er denn Boten in alle Städte und ließ verkünden, er sichere dem Dieb Straflosigkeit zu und verspräche ihm eine hohe Belohnung, wenn er vor sein Angesicht träte. Der Dieb ging voller Vertrauen zum König, Rhampsinitos aber bewunderte ihn hoch und gab ihm seine Tochter, weil er der klügste Mensch auf Erden sei. Denn, meinte er, die Ägypter seien klüger als die anderen Völker, er aber sei noch klüger als die Ägypter.}} |
Version vom 22:07, 4. Aug. 2019
Rhampsinit und der Meisterdieb ist eine Sage aus den Historien des Herodot. Sie diente als Vorlage für das Märchen von der schönen Prinzessin und dem klugen Baumeister, das in der Griechenland-Ägypten-Serie des Mosaik ab 1976 erzählt wird.
Inhaltsverzeichnis |
Die Sage bei Herodot
Im zweiten Buch (Euterpe) seiner Historien befasste sich Herodot (5. Jhd. v.u.Z.) mit der Frühgeschichte von Ägypten. Es stellt eine Art Exkurs zur Schilderung der Eoberung des Landes durch den Perserköng Kambyses dar. Die Abschnitte 121 bis 123 behandeln König Rhampsinit, Nachfolger des sagenhaften Proteus (zur Zeit des Trojanischen Krieges) und Vorgänger des Cheops (des Erbauers der großen Pyramide von Gizeh). Beim Namen Ῥαμψίνιτος Rhampsinitos handelt es sich wohl um eine Verballhornung von Pharao Rhamses II. (ägyptisch Ramessu) und der Göttin Neith. Ramses II. gehörte freilich der 19. Dynastie an, Cheops hingegen der 4. Dynastie, kann also niemals sein Nachfolger gewesen sein. Abschnitt 121 nun ist ganz der Sage vom Schatzhaus des Rhampsinit gewidmet (in der Übersetzung von August Horneffer, überarbeitet von Wilhelm Haussig):
Nach Proteus wurde Rhampsinitos König. [...] [121 A] Dieser König war sehr reich, und keiner der späteren Könige besaß mehr Geld als er oder kam ihm darin auch nur nahe. Nun wollte er seine Schätze an einem sicheren Orte verwahren und baute eine steinerne Kammer, deren eine Wand an die Außenseite des Königspalastes stieß. Der Erbauer aber hinterging ihn und fügte die Steine so, daß einer von einem oder zwei Männern leicht aus der Wand herausgenommen werden konnte. Und als die Kammer fertig war, speicherte der König seine Schätze darin auf. Nach einiger Zeit fühlte der Baumeister sein Lebensende herannahmen und rief seine Söhne - er hatte deren zwei - zu sich. Er erzählte ihnen, wie er für sie gesorgt und sie reich gemacht hätte, indem er beim Bau der königlichen Schatzkammer jene List angewandt hätte. Genau erklärte er, wie der Stein herauszunehmen sei, und gab ihnen die Maße, wo er läge. Wenn sie es wohl behielten, sagte er, würden sie zu Schatzmeistern des Königs werden. [121 B] Er starb, und die Söhne machten sich, ohne lange zu zaudern, eines Nachts auf, gingen zum Königspalast, fanden den Stein in der Wand der Kammer, hoben ihn leicht heraus und nahmen sich eine Menge von den Schätzen. Als nun der König einmal in die Kammer ging, wunderte er sich, daß in den Gefäßen Gold fehle, und konnte doch niemandem die Schuld geben, denn die Siegel waren unverletzt und die Türe verschlossen. Wie nun die Schätze allmählich immer mehr abnahmen - denn die Diebe hörten mit ihren Einbrüchen nicht auf -, tat er folgendes. Er ließ Schlingen machen und sie rings um die goldgefüllten Gefäße legen. Als nun die Diebe zu ihrer gewohnten Zeit herbeikamen und einer von ihnen in die Kammer hineinstieg und zu den Gefäßen ging, fing er sich sofort in der Schlinge. Als er seine böse Lage gewahr wurde, rief er gleich seinen Bruder, sagte ihm, was geschehen sei, und hieß ihn eiligst hereinsteigen und ihm den Kopf abschlagen, damit man ihn nicht erkenne und auch den anderen ums Leben bringe. Das schien diesem wohlgesprochen. Er tat, wie ihm jener geheißen, setzte den Stein an seinen Platz und ging heim mit dem Kopfe seines Bruders. [121 C] Als es Tag wurde, ging der König in die Kammer und erschrak über den kopflosen Leichnam in der Schlinge; denn die Kammer war unverletzt, und keine Öffnung zum Hineingehen und Herausgehen war vorhanden. Um sich Klarheit zu verschaffen, tat er folgendes. Er ließ den Leichnam an die Stadtmauer hängen, stellte Wächter dabei auf und befahl ihnen, wenn sie jemanden um den Toten weinen oder klagen sähen, ihn zu ergreifen und vor ihn zu führen. Als nun der Leichnam des Diebes dahing, wurde seine Mutter sehr traurig; sie sprach zu ihrem überlebenden Sohne und gebot ihm, es auf irgendeine Weise möglich zu machen, den Leib des Bruders loszumachen und herbeizubringen. Wenn er ihr nicht gehorche, würde sie zum König gehen, drohte sie, und anzeigen, daß er die Schätze habe. [121 D] Weil die Mutter so heftig in ihn drang und er sie durch nichts von ihrem Verlangen abbringen konnte, ersann der Sohn eine List. Er rüstete seine Esel, füllte Schläuche mit Wein, lud sie den Eseln auf und zog davon. Als er bei den Wächtern des hängenden Leichnams vorüberkam, zog er an zwei oder drei Zipfeln seiner Schläuche und löste die Knoten. Der Wein floß heraus, und er schlug sich laut schreiend an den Kopf, als wüßte er nicht, an welchen Esel und Schlauch er sich zuerst machen sollte. Als die Wächter die Menge Wein entlaufen sahen, kamen sie mit Krügen an die Straße gelaufen, fingen den fließenden Wein auf und freuten sich dessen. Er stellte sich zornig und schmähte sie alle der Reihe nach; aber die Wächter suchten ihn zu begütigen, und nach einer Weile tat er, als sei sein Zorn verflogen. Schließlich führte er die Esel von der Straße und brachte die Lasten wieder in Ordnung. Sie sprachen weiter miteinander, und als ihn einer durch Späße zum Lachen brachte, gab er ihnen noch einen Schlauch. Gleich lagerten sie sich zum Trinken, nahmen auch ihn und hießen ihn mit ihnen trinken. Er ließ sich bewegen und blieb dort. Als sie ihm nun beim Trinken alle Freundlichkeiten erwiesen, gab er ihnen noch einen weiteren Schlauch. Sie sprachen dem Wein wacker zu, wurden trunken und, bewältigt vom Schlaf, blieben sie dort, wo sie getrunken hatten, liegen. Als es Nacht war, nahm nun jener den Leib des Bruders herab und, um ihnen einen Schimpf anzutun, schor er allen Wächtern die rechte Wange kahl. Dann lud er den Leichnam auf seine Esel und trieb sie nach Hause. So hatte er den Wunsch seiner Mutter erfüllt. [121 E] Als dem König der Diebstahl des Leichnams gemeldet wurde, ergrimmte er. Er wollte um jeden Preis den Täter ausfindig machen und soll folgendes Mittel dazu angewendet haben - ich kann es aber nicht glauben -: er hieß seine Tochter in ein Freudenhaus gehen und sich jedem, der käme, preisgeben. Aber vorher solle sie jeden nötigen, ihr die verschlagenste und die verruchteste Tat zu erzählen, die er in seinem Leben begangen habe. Wenn ihr dann einer den Streich mit jenem Diebe erzähle, solle sie ihn festhalten und nicht wieder fortlassen. Die Tochter tat, wie ihr Vater befahl, und als der Dieb hörte, weshalb der König diesen Befehl gegeben, wollte er noch listiger sein als der König und tat folgendes. Er schnitt der frischen Leiche den Arm an der Schulter ab und nahm ihn unter dem Mantel mit fort. Als er zu der Königstochter kam und sie dieselbe Frage an ihn tat wie an die anderen, erzählte er, die schändlichste Tat seines Lebens sei, daß er seinem in des Königs Schatzkammer in der Schlinge gefangenen Bruder den Kopf abgeschlagen, und seine verschlagenste Tat sei, daß er die Wächter trunken gemacht und die an der Mauer hängende Leiche seines Bruders abgenommen habe. Als sie das hörte, griff sie nach ihm, aber der Dieb hielt ihr in der Dunkelheit den Arm des Toten hin. Sie faßte ihn und meinte, den Arm des Lebenden zu halten. Der Dieb ließ den Arm in ihrer Hand und entwich durch die Türe. [121 F] Als auch das dem König gemeldet wurde, war er voller Staunen über die Klugheit und die Keckheit dieses Menschen. Da schickte er denn Boten in alle Städte und ließ verkünden, er sichere dem Dieb Straflosigkeit zu und verspräche ihm eine hohe Belohnung, wenn er vor sein Angesicht träte. Der Dieb ging voller Vertrauen zum König, Rhampsinitos aber bewunderte ihn hoch und gab ihm seine Tochter, weil er der klügste Mensch auf Erden sei. Denn, meinte er, die Ägypter seien klüger als die anderen Völker, er aber sei noch klüger als die Ägypter. |
Die Sage vom Schatzhaus des Hyrieus bei Pausanias
Interessanterweise findet sich in der Beschreibung Griechenlands des Pausanias (2. Jhd. u.Z.) eine ganz ähnliche Geschichte, die höchstwahrscheinlich auf Herodot zurückgeht (oder aber, was unwahrscheinlicher ist, dieselbe Quelle benutzt). Sie findet sich im Buch IX, das der Landschaft Böotien gewidmet ist, und da in den Abschnitten 37.5-6. Es geht dort um den greisen König Erginos von Orchomenos und seinen Sohn Trophonios, der später als Orakelheiliger verehrt wurde (in der Übersetzung von Ernst Meyer, bearbeitet von Felix Eckstein und Peter C. Bol):
[37.5] Er [d.h. Erginos] nahm sich also eine junge Frau, und dem Spruche [des Orakels von Delphi] gemäß wurdem ihm Trophonios und Agamedes geboren. Man sagt, Trophonios sei ein Sohn des Apollon und nicht des Erginos gewesen, und ich bin davon überzeugt, wie auch alle, die wegen des Orakels zu Trophonios kommen. Als diese heranwuchsen, sollen sie gewaltig darin gewesen sein, den Göttern Heiligtümer und den Menschen Königssitze zu bauen; sie bauten nämlich dem Apollon den Tempel in Delphoi und dem Hyrieus das Schatzhaus. Sie richteten dabei einen der Steine so her, daß sie ihn von außen wegnehmen konnten, und so nahmen sie immer wieder etwas von dem Niedergelegten fort. Hyrieus aber sagte nichts, obwohl er die Schlösser und die übrigen Zeichen unverletzt sah. [37.6] Er setzte aber auf die Behältnisse, in denen das Silber und auch das Gold war, Fallen oder etwas anderes, das den Einbrecher, der die Schätze berührte, festhalten sollte. Als Agamedes eintrat, hielten diesen die Fesseln zurück; Trophonios aber schnitt ihm den Kopf ab, damit nicht bei Tagesanbruch jener mißhandelt und er selbst als Mittäter verraten würde. |
Motivvergleich
Bei zwei so ähnlichen Geschichten ist es nicht von vornherein klar, welche davon den MOSAIK-Autoren (Jens-Uwe Schubert und Jens Fischer) vorlag. Ein detaillierter Motivvergleich erweist aber schnell, dass die Übereinstimmungen mit Herodot wesentlich größer sind als mit Pausanias. Insbesondere bietet Pausanias nur den ersten Teil der Geschichte bis zur Köpfung eines der Brüder und gerade das Motiv mit der Überlistung der Wachen durch Trunkenheit ist wichtig, spielt es doch eine Rolle in der anschließenden Handlung im MOSAIK.
Ob die Autoren die Quelle aber direkt aus den Historien kannten oder einem anderen Buch entnahmen (z.B. einer populärwissenschaftlich/anschaulichen Geschichte Ägyptens), ist noch nicht bekannt.
Motiv | Pausanias | Herodot | MOSAIK |
---|---|---|---|
Handlungsort | Böotien in Griechenland | Ägypten | |
Bauherr | König Hyrieus | Rhampsinit, der reichste aller ägyptischen Könige | unsagbar reicher König |
Baumeister | Brüder Trophonios und Agamedes | alter Baumeister, der bald stirbt | junger Architekt |
Meisterdieb(e) | zwei Söhne des alten Baumeisters | ||
geheimer Zugang | loser Stein, der leicht von ein/zwei Mann verschoben werden kann | ||
Schatz | Gold und Silber | Gold | Königstochter |
Missetat | die beiden Brüder berauben nachts heimlich den König | der junge Baumeister besucht nachts heimlich die Prinzessin | |
Rätsel | König wundert sich, da alle Türen und Siegel unverletzt sind | König merkt zunächst nichts | |
Gegenmaßnahme | König lässt Schlingen/Fallen/Fesseln auslegen | ||
Folge | Agamedes bleibt hängen und Trophonios köpft ihn, damit er nicht erkannt wird | ein Bruder bleibt in den Fallen hängen und bittet den anderen, ihn zu köpfen, damit er nicht erkannt wird | Baumeister lässt unabsichtlich seine Perücke zurück (das Motiv des Köpfens taucht später erst auf, siehe unten) |
neue Maßnahmen | König lässt den kopflosen Leichnam öffentlich aufhängen und bewachen, um den Dieb über seine Trauer zu enttarnen | König lässt das Schatzhaus von Wachen umstellen | |
Gegenlist | Meisterdieb belädt seinen Esel (bzw. seine Esel) mit Weinschläuchen, besucht die Wächter, lässt den Wein auslaufen, macht die Wachen betrunken, bis sie einschlafen | ||
Spott | Rasur der Wachen | keiner | |
Erfolg | Dieb kann kopflosen Leichnam des Bruders abnehmen und heimbringen | Baumeister befreit die Prinzessin und flieht mit ihr | |
letzte List | König setzt seine Tochter als Hure ein, um irgendwann den Dieb auszufragen und so zu erwischen | König lässt über Boten verkünden, er belohne denjenigen reich mit Gold, der ihm seine Tochter wiederbringt; in Wirklichkeit will er ihn aber köpfen | |
Boten | nachdem der Meisterdieb auch die letzte List des Königs vereitelt hat, lässt der König über Boten ausrufen, dass er dem Dieb Straffreiheit und eine hohe Belohnung verspricht; das meint er ernst | ||
Abschluss | König und Dieb versöhnen sich, Dieb bekommt die Königstochter als Braut | Baumeister verjagt den König mit einer Schar Mäuse, wird dann neuer König und heiratet die Prinzessin |
Analyse
Man erkennt beim Vergleich der drei Fassungen der Sage sehr schön, wie die MOSAIK-Autoren vorgegangen sind. Erstens haben sie die Geschichte weniger grausam gestaltet - statt eines Kopfes wird nur eine Perücke verloren; erst später wird das Köpfen als geplante, aber vereitelte Schandtat durch den König wieder aufgenommen. Zweitens haben sie die drei bzw. zwei Figuren der Vorlage (Vater und zwei Söhne) in eine einzige Figur zusammengelegt, den jungen Architekten. Drittens geht es nicht um den Raub materieller Schätze, sondern um die Befreiung einer Prinzessin, wodurch die kriminelle Energie des Diebs aus der Vorlage abgemildert wird.
Außerdem sieht man, dass immer dann, wenn die Fassungen von Herodot und Pausanias sich unterscheiden, das MOSAIK der Darstellung bei Herodot folgt.
Literatur
- Der Meisterdieb (griechischer Text und deutsche Übersetzung der Herodot-Sage)
- Rhampsinit in der Wikipedia
- Herodot: Historien, übs. von Anton Horneffer und Wilhelm Haussig, Kröner-Verlag, Stuttgart 1971.
- Trophonios und Agamedes in der Wikipedia
- Pausanias: Reisen in Griechenland, übs. von Ernst Meyer, Felix Eckstein und Peter C. Bol, Artemis & Winkler, Zürich/Düsseldorf 1986.
Die Sage von Rhampsinit und dem Meisterdieb diente als Vorage für folgendes Mosaikheft
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