Diskussion:Der Meisterdieb

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Lichterkrebse und Banu Sasan

Datei:Tawwabun.jpg

Das mit der Schildkröte mit einer Kerze auf dem Rücken klingt ja genau wie Der Meisterdieb. Irre. Cooles Wandermotiv. Tilberg 15:29, 31. Mai 2022 (CEST)

Banu Sasan nennt sich diese Diebesgruppe mit den beherzten & bekerzten Schildkröten. Tilberg 22:37, 31. Mai 2022 (CEST)
mehr dazu. Es handelt sich um Forschung von Bosworth (der aus der Fußnote, Bhur). Tilberg 22:40, 31. Mai 2022 (CEST)
Artikel von Bosworth in der EI - Abu Dulaf, eine Primärquelle - noch was Tilberg 22:49, 31. Mai 2022 (CEST)
Hauptquelle für die Kerzenkröten als Diebestaktik scheint Jaubari im 13. Jhd zu sein. Der hat aber wohl auch nur kompiliert, was er so alles über Diebe gelesen hat. Weiß Gott, wo das mit den Kerzen herstammt. Ich halte das jedenfalls für ein Märchenmotiv, das einmal hier im Orient aufpoppt und einmal in Grimms Märchen; das hängt sicher irgendwie zusammen, aber wer weiß wie. Und dann taucht das Motiv natürlich abgewandelt und wohl vom Grimmschen Märchen stammend bei Huckepuck im Mosaik auf. Tilberg 23:17, 31. Mai 2022 (CEST)
Hier mal ein Beispiel für das Motiv bei einem albanischen Märchen über einen Zigeuner-Oberpriester. Die Banu Sasan oben klingen ja auch sehr nach typischem Fahrenden Volk. Tilberg 00:12, 1. Jun. 2022 (CEST)
Das Meisterdieb-Märchen gibt es auch bei Bechstein. Sowohl Grimm als auch Bechstein haben es von einem thüringischen Mundartsammler, Georg Friedrich Stertzing. Dort ist die Sache mit den Kerzenkrebsen drin. Interessant: Eine sehr ähnliche frühere Form ist ein italienisches Märchen von Gianfrancesco Straparola aus dem 16. Jhd. über den Trickster Cassandrino. Praktisch haargenau dieselbe Geschichte ....... aber ohne Kerzenkrebse! Die müssen irgendwann von woanders in das Märchen gelangt sein, das Stertzing niederschrieb. Ganz so überraschend ist das nicht, denn das Motiv fehlt ja auch bie der Urform des Meisterdiebs bei Herodot (Rhampsinit und der Meisterdieb). Ob es ein Wandermotiv speziell aus der Zigeunerüberlieferung ist? Das wegen des ähnlichen Sujets irgendwann in das Meisterdiebmärchen eingearbeitet wurde? Ich bleibe dran! Tilberg 00:37, 1. Jun. 2022 (CEST)
Hier noch eine Meisterdiebvariante aus Norwegen[1]. Die Übertölpelung des Pfarrers ist auch hier dabei, dem vorgegaukelt wird, er komme in den Himmel, wenn er in den Sack steigt. Aber auch hier: keine Kerzenkrebse. Tilberg 00:56, 1. Jun. 2022 (CEST)
Hier noch die Vorlage für Grimm und Bechstein, das thüringische Märchen: [2]. Die Stelle mit den Kerzenkrebsen ab S. 297. Tilberg 01:07, 1. Jun. 2022 (CEST)
[3] zeigt, daß das Grimm-Märchen auch im englischen Sprachraum bekannt ist. Vermutlich kein unabhängiger Beleg für unser Motiv. Tilberg 12:23, 1. Jun. 2022 (CEST)
[4] Das hier ist sehr spannend. Da ist tatsächlich von einem Zigeuenermärchen die Rede, das die Kerzenkrebse enthählt. Ab S. 118. "Die zwei Diebe", ein Zigeunermärchen aus Rumänien, publiziert 1878. Oh Mann! Wir kommen näher. Tilberg 12:29, 1. Jun. 2022 (CEST)
Das ist natürlich NACH Grimm erschienen, kann also auch darauf beruhen. Kann aber auch genauso gut ein echt altes Zigeunermärchen sein, das wiederum die Grimm-Stertzing-Variante beeinflußte. Es ist auch insofern spannend, als es wie aus zwei Teilen zusammengepappt erscheint. Erst die ganzen Motive aus Rhampsinit (inkl. abgeschnittenem Kopf und trunkenen Wachen), und erst danach liefert der Dieb dem König mehrere Proben seiner Kunst, darunter die Pfarrer-Kerzenkrebs-Sache. Als ob zwei Märchen mit ähnlichem Sujet (meisterhafter Dieb) zusammengefügt wurden. Tilberg 12:48, 1. Jun. 2022 (CEST)
Hier der ganze Text dieses rumänischen Zigeunermärchens. Und hier die uns interessierende Passage:
And he went to the thief. 'Well, my fine fellow, I will give you my daughter, and you shall become king in my stead, if you will steal the priest for me out of the church.' Then the thief went into the town, and got three hundred crabs and three hundred candles, and went to the church, and stood up on the pavement. And as the priest chanted, the thief let out the crabs one by one, each with a candle fastened to its claw; he let it out. And the priest said, 'So righteous am I in the sight of God that He sends His saints for me.' The thief let out all the crabs, each with a candle fastened to its claw, and he said, 'Come, O priest, for God calls thee by His messengers to Himself, for thou art righteous.' The priest said, 'And how am I to go?' - 'Get into this sack.' And he let down the sack; and the priest got in; and he lifted him up, and dragged him down the steps. And the priest's head went tronk, tronk. And he took him on his back, and carried him to the king, and tumbled him down. And the king burst out laughing. And straightway he gave his daughter to the thief, and made him king in his stead.
Südslawische Variante: Vom Burſchen, der ſich auf Zigeunerſtreiche verſtand. Publiziert 1883. Mit Pfarrer und Kerzenkrebsen:
Der Graf hielt sein Läugnen nur für Verſtocktheit und erſann etwas, um den Pfarrer zu züchtigen. „Der Zigeuner hat mich um den Ring gebracht, er wird auch dies ausführen können,” dachte er ſich, ließ den Zigeuner ſelbſt vor ſich rufen und ſagte zu ihm: „Wenn du den Pfarrer ſplitternackt in meinen Saal ſchaffſt, bekommſt du noch tauſend Gulden.“ — Antwortete der Zigeuner: „Soll geſchehen.“ — Der Zigeuner machte ſich gleich auf den Weg zum Fluß, ſieng eine große Menge Krebse, kaufte bei einem Lebzeltner eine Menge Wachslichtel und begab ſich unbemerkt in die Kirche. Dort klebte er auf jeden Krebs ein Kerzlein, zündete es an und ließ den Krebs frei. Die Dunkelheit war ſchon angebrochen und die Krebse ſchlurrten in der Kirche wie Geiſter herum. Vor die Kirchenthüre legte er noch einen großen, langen Sack, ſtellte ſich dann auf den Hochaltar hinauf und wartete der kommenden Dinge. Als der Pfarrer zum Ave Maria Geläute in die Kirche beten kam, ließ ſich der Zigeuner vom Altar herab vernehmen: „Wer in den Himmel kommen will, werfe das irdiſche Gewand ab und krieche in den Sack dort hinein.“ Der Pfarrer hörte dieſe Worte und dachte ſich: „Eine ſo ſchöne Gelegenheit in den Himmel zu kommen, dürfte nicht bald ſich wiederfinden, alſo ſchnell in den Sack hinein.“ — Im Nu war er drinnen; der Zigeuner ſtieg ſchnell von Altar herab und band den Sack feſt zu. Dann lud er ihn auf den Rücken, gieng ins Schloß und ſchleifte den Sack über die Treppe hinauf in den Saal, der ſeitlich beleuchtet war und wo eine Menge hoher Herrſchaften darauf wartete, den Pfarrer in ſeiner ganzen Nacktheit zu ſehen. Der Zigeuner band den Sack auf, der Pfarrer lugte heraus, ſah alles hell erleuchtet, dachte, er ſei wirklich im Himmel angelangt, und kroch ſchleunigſt aus dem Sacke heraus. Die Herren brachen bei ſeinem Anblick in ein ſchallendes Gelächter aus. Sofort erkannte der Pfarrer den Ort, wo er ſich befinde und verkroch ſich unterm Tiſch.

Tilberg 13:27, 1. Jun. 2022 (CEST)


So, hier mal wieder was zum eher orientalsichen Teil der Überlieferung, mit Schildkröten statt Krebsen: [5] Tilberg 13:56, 1. Jun. 2022 (CEST)

In der Märchenforschung ist das Motiv natürlich bekannt, hätte ich mir gleich denken können: Lichterkrebse bzw Candles on the crayfish, AaTh/ATU 1740. Tilberg 07:28, 23. Jun. 2022 (CEST)

Hier der Eintrag in der Enzyklopädie der Märchen. Man beachte: Eine Menge der von mir oben zusammengetragenen Beispiele werden auch hier erwähnt, inkl. der Verknüpfung mit dem Motiv AaTh 1525 (Meisterdieb). ABER (haha!) die Verbindung mit den Banu Sasan scheint hier nicht bekannt zu sein! Da hätten wir hier tatsächlich Forschungsarbeit geleistet. Tilberg 07:44, 23. Jun. 2022 (CEST)

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Hier ein Link zu einschlägiger Literatur: Leopold Kretzenbacher: Meisterdieb-Motive. I. Anton Bruckner und die Lichterkrebse. II. Frühe italienische und französische Zeugnisse zum Humanistenschwank vom Betrug mit den Lichterkrebsen, in: Leopold Schmidt: Wunder über Wunder. Gesammelte Studien zur Volkserzählung = Raabser Märchen-Reihe 1, Wien 1974 (ab S. 137) Tilberg 07:53, 23. Jun. 2022 (CEST)

Aufhänger für diesen Artikel ist, daß unsere Kerzenkrebs-Geschichte in einer Anekdote vom jungen Anton Bruckner wieder auftaucht. Irre. Tilberg 07:58, 23. Jun. 2022 (CEST)
Äh, ich finde deine Begeisterung für das Kerzenschildkrötenmotiv bewundernswert, aber wo ist genau der Bezug zum Mosaik? Kommt das da irgendwo vor? Nafi 10:41, 23. Jun. 2022 (CEST)
Aber ja doch, steht doch auch hier weiter oben. Bei Huckepuck. das basiert mMn auf dem Meisterdieb-Märchen von den Brüdern Grimm, und speziell auf dem Lichterkrebsmotiv daraus. Auch wenn es im Mosaik keine Krebse sind, sondern ein Sumpf. Tilberg 11:19, 23. Jun. 2022 (CEST)
Eine Variante des Motivs, die bei Aarne-Thompson ebenfalls unter Nr 1740 abgehandelt wird, ist die mit brennenden Kerzen bestückte Ziege, die ein ganzes Dorf abfackelt. Das haben wir ebenfalls in der Runkelserie mit der Leuchtfeuerziege. Zufall? Tilberg 13:46, 23. Jun. 2022 (CEST)

Hier mal die oben in der Enzyklopädie der Märchen erwähnte Sage über die ERroberung der Burg Klauberg in der Wetterau:

Von dem Glauberg
Zur Zeit als die Römer in Deutschland lagen, wohnte ein Ritter auf dem in der Wetterau gelegenen Schloße Klauberg und hielt die Feste wohlverwahrt mit Kämpfern. Ein Fürst, Conrad von Isenburg, beschloß die Feste zu nehmen: in einer Nacht nahm man eine Menge Krebse, hing ihnen brennende Lämpchen an und ließ sie im Thale umher kriechen. Die Besatzung, überrascht von einem solchen seltsamen Schauspiel, begab sich, neugierig zu sehen, wie es damit beschaffen, nach und nach aus der Feste und selbst die äußersten Wächter derselben verließen ihre Posten; alsbald drangen die versteckten Krieger hervor, und nahmen die Feste in Besitz. Konrad, der gelobte, wenn ihm diese List gelänge, ein Kloster in dieser Gegend zu bauen, bauete alsbald ein Kloster, und noch jetzt steht daselbst das Konrads-Kloster. Die Klauburg liegt in ihren Trümmern.

Zitiert nach Heriner Boehncke und Hans Sarkowicz (Hgg.): Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders = Die andere Bibliothek Band 428, Berlin, Aufbau-Verlag 2020.
Die haben das aber auch nur aus Gerd Hoffmann und Heinz Rölleke (Hgg.): Der unbekannte Bruder Grimm. Deutsche Sagen von Ferdinand Philipp Grimm (aus dem Nachlaß), Düsseldorf/Köln, Diederichs 1979. Tilberg 15:27, 24. Jun. 2022 (CEST)

Auch wenn man sich wünschen würde, daß diese Burgeroberung eine Mosaikquelle gewesen könnte, kann sie den Mosaikmachern nicht bekannt gewesen sein. Sie erschien ja erst 1979 erstmals in einer Märchensammlung, die aus Ferdinand Grimms Nachlaß herausgegeben wurde. Aber nett zu sehen, daß nicht nur die Mosaikautoren die Idee hatten, sich von der Lichterkrebs-Geschichte zu einer Burgeroberung inspirieren zu lassen. Tilberg 15:29, 24. Jun. 2022 (CEST)

Meisterdieb in Island

CXXVII. Rikkur, der listige Baumeister.
Nach dem Manuskripte von Steingrimur Thorsteinsson.

Im Auslande lebte einst ein reicher Fürst, der eine einzige
Tochter besaß. Da ihm sein Schloß nicht mehr schön schien,
so ließ er sich eine neue Halle bauen und in dieser ein Zimmer,
in dem er sein Geld und seine Kostbarkeiten aufbewahren
wollte. Die eine Seite dieser Schatzkammer hatte ein Bau-
meister, namens Rikkur, zu bauen, der seinen Sohn, gleichfalls
Rikkur genannt, zum Gehilfen hatte. Um später unbemerkt in
dieses Zimmer zu kommen, setzte Rikkur der Alte einen Mauer-
stein und ein Brett nur lose ein — doch niemand wußte dies,
wie nur er und sein Sohn. Diesem sagte er, daß er in der
Schatzkammer heimlich nach ihm suchen solle, falls er einmal
ungewöhnlich lange ausbleibe. Der Fürst merkte, daß ihm
unbegreiflicherweise immer viel Geld gestohlen wurde, und
um den Dieb zu entdecken, ließ er ein Faß mit flüssigem
Pech vor der Geldkiste in die Erde graben. — Eines Tages
kommt Rikkur der Alte nicht nach Hause. Sein Sohn macht
sich mit einem Sacke und einem Lichte auf, um heimlich den
Vater zu suchen. Wie er auf dem gewohnten Wege in die
Schatzkammer eindringt, findet er den Vater in dem Pechfasse,
so daß nur der Kopf herausragt. An Rettung sei nicht zu
denken, meint der Alte, denn wenn er versuche, ihn heraus-
zuziehen, würde er nur vergeblich gequält und zerrissen
werden. Damit der Sohn und die ganze Familie nicht auch
dem sicheren Tode verfalle, solle ihm der Sohn den Kopf ab-
schlagen und ihn zu sich stecken. Da kein anderer Ausweg
möglich ist, so erfüllt Rikkur den Wunsch des Vaters, steckt
den Kopf in den Sack und geht nach Hause. Wie der Fürst
am andern Morgen die kopflose Leiche in der Tonne findet,
läßt er sie reinigen und dann durch alle Gassen der Stadt
tragen. Zwei Henkersknechte müssen in einem fort den Leich-
nam prügeln, und die übrigen Leute des Zuges müssen genau
beobachten, wer über diesen Anblick betrübt scheint. Als sie
an Rikkurs Hause vorbeikommen, und die Mutter sieht, wie
der Leichnam ihres Mannes behandelt wird, stößt sie einen
Schrei aus. Im gleichen Augenblicke schneidet sich Rikkur
bei der Arbeit ins Bein und läßt die Wunde von der Mutter
verbinden. Der Fürst faßt aber trotzdem Argwohn gegen
Rikkur. Vor seinem Hause wird darum ein Galgen errichtet,
der Leichnam daran gehangen und von zwei Henkersknechten
fortwährend gepeitscht. Die alte Frau erklärt, diesen Anblick
nicht ertragen zu können. Rikkur müsse sehen, wie er die
Leiche vom Galgen bekomme. Der junge Mann geht nun in
einen Kleiderladen und kauft sieben schwarze Mäntel und
mietet sieben braune Pferde. Dann bestreicht er die Mäntel
außen mit Leim und läßt sie von einem Goldschmied mit
Goldstaub bestreuen, so daß die Mäntel prächtig leuchten.
Draußen am Strande lag ein Schiff mit sechs Mann Besatzung,
die auf günstigen Wind warteten. Diese mietet Rikkur, hüllt
sich mit ihnen in die goldigen Mäntel und reitet dann in der
Dunkelheit mit seiner Schar zum Galgen. Sowie die Henkers-
knechte diese glänzende Erscheinung sehen, werden sie so er-
schrocken, daß sie davonlaufen. Nun nimmt Rikkur die
Leiche vom Galgen, gibt sie den Schiffern und bittet diese,
sie draußen in der See zu versenken. — — — Als auf
diese Weise der Fürst wieder nichts in Erfahrung bringen
kann, läßt er bekannt machen, daß in der ganzen Stadt
acht Wochen hindurch kein Mensch Fleisch essen oder ver-
kaufen dürfe. Nur ein einziges Kalb, das in seinem Vorrats-
hause bewacht würde, sei für achttausend Gulden verkäuf-
lich. Denn er meint, daß der Käufer des Kalbes, der so viel
Geld aufbringen könne, dann sicher auch der Dieb seiner
Schatzkammer sei. Wie drei fleischlose Wochen vergangen
sind, erklärt die Mutter Rikkurs, daß sie nicht länger ohne
Fleisch leben könne — sie wolle das Kalb lieber kaufen. Doch
davon will der Sohn nichts wissen. Er nimmt zwei Flaschen
vom stärksten Weine und geht mit ihnen heimlich eines Abends
zum Vorratshause. Er zecht mit den Wächtern, bis sie trunken
zu Boden fallen, dann tötet er das Kalb und bringt das Fleisch
seiner Mutter. Wie die Wächter erwachen, teilen sie dem
Fürsten den Diebstahl mit. Nun sendet dieser zwanzig Leute
durch die Stadt, die überall versuchen müssen, ob sie nicht
irgendwo etwas Fleisch bekommen können. Einer von diesen
kommt zur Mutter Rikkurs, wie der Sohn gerade nicht zu
Hause ist. Die Alte schlägt ihm zuerst seine Bitte ab, wirft
ihm aber schließlich ärgerlich ein Rückenstück zu. Der Mann
geht mit dem Fleischstück in der Hand zur Türe hinaus, doch
in demselben Augenblicke kommt Rikkur ins Haus, überblickt
das Geschehene, erschlägt den Mann und begräbt ihn heimlich.
Am Abend kommen nur neunzehn Männer zum Fürsten zurück,
und niemand weiß, wo der Fehlende geblieben ist. Nun be-
fragt der Fürst die Wächter, wie alt wohl der Mann sein könne,
der sie mit dem Weine berauscht habe. Sie meinen zwischen
zwanzig und dreißig Jahren. Jetzt werden vom Fürsten alle
jungen Leute der Stadt zwischen achtzehn und vierzig Jahren
zu einem großen Festgelage eingeladen. Wie sie alle betrunken
sind, wird ihnen ein großer Saal als gemeinsames Schlafgemach
angewiesen. Rikkur, der auch unter den Gästen war, überlegt
in der Nacht, was wohl auf dem Boden, zu dem vom Saal
aus eine Treppe führt, verborgen sein könne. Er beschließt,
die Sache zu untersuchen. Wie er hinaufkommt, findet er,
daß etwas Nasses ihm durchs Gesicht streicht. Er geht wieder
hinunter, beschließt aber zum zweiten Male, den Gang nach
oben zu unternehmen. Auch jetzt hat er das gleiche Gefühl.
Er nimmt einen Spiegel hervor und sieht nun, daß er im
Gesicht zwei rote Striche hat, die auf keine Weise sich ent-
fernen lassen. Nun geht er zum dritten Male hinauf, läßt sich
durch den nassen Strich durchs Gesicht nicht abhalten zu suchen,
bis er einen Menschen findet mit einem Farbtopfe in der Hand.
Nach kurzem Ringen entwindet er dem Unbekannten das Gefäß,
steigt wieder hinunter und streicht nun allen Männern im
Saale drei Striche durchs Gesicht. Am andern Morgen sucht
der Fürst seine Tochter auf. Denn diese hatte sich auf Befehl
des Vaters oben auf dem Boden mit einem Farbtopfe verstecken
und jedem, der von den Gästen es wagen sollte, zu ihr zu
kommen, einen Farbstrich durchs Gesicht geben müssen. Das
Mädchen erzählt nun, daß es entweder drei Männer auf diese
Weise gezeichnet habe, oder daß derselbe Mann dreimal ge-
kommen sei. Nun ist der Fürst gewiß, den kühnen Dieb zu
entdecken. Wie er jedoch in den Saal tritt, haben alle seine
Gäste drei rote Striche im Gesicht. Als auch diese letzte List
mißglückt ist, überlegt der Fürst, daß auf jeden Fall der Dieb
ein selten wachsamer und kluger Mann sein müsse. Ein
tüchtigerer Gatte würde für seine Tochter wohl nicht zu finden
sein. Er ladet nun nochmals alle jungen Leute zum Gastmahl,
und hier verkündigt er, daß er dem Diebe, der aus all diesen
Schlingen so klug sich gezogen habe, seine Tochter zur Frau
geben wolle. Nun gibt sich Rikkur zu erkennen, und die
Hochzeit wird gefeiert.

Köhler bespricht diesen Schwank, der bis zu Herodots
Erzählung vom Schatze des Rhampsinit zurückgeht, ausführlich
bei Campbeils schottischem Märchen „Vom schlimmen Burschen,
dem Sohne der Witwe" (KL Sehr. S. 198 ff.). Er gibt hier von
den verschiedenen Bearbeitungen, die dieser Stoff erfahren hat,
ausführliche Inhaltsangaben, so daß wir nach ihnen wohl im
stände sind, zu beurteilen, welche Quelle dieser isländischen
Form des Schwankes wohl zu Grunde liegen mag. Zug um
Zug unserer Erzählung findet sich in einer Novelle des Floren-
tiners Ser Giovanni, der seine Novellen im Jahre 1378 zu
schreiben begann (Pecorone 9, 1). Ich gebe die Inhaltsangabe
wörtlich nach Köhler wieder:
„Bindo von Florenz baut einem Dogen von Venedig einen
Palast nebst Schatzkammer mit einem beweglichen Stein in der
Mauer. Kurze Zeit darauf gerät er in Armut und bestiehlt
mit seinem Sohne Richard den Schatz. Der Doge entdeckt
durch ein Strohfeuer jene Öffnung und läßt einen Pechkessel
darunterstellen und siedend erhalten. Beim nächsten Besuch
fallt der Vater hinein und läßt sich vom Sohne den Kopf ab-
schneiden. Am folgenden Tage wird die Leiche durch die
Straßen geschleppt, und weil die Mutter laut jammert, haut
sich der Sohn in die Hand. Hierauf wird die Leiche an den
Galgen gehängt und bewacht. Auf das Drängen der Mutter,
sie zu rauben, steckt der Sohn nachts zwölf Lastträger in
Mönchskutten und gibt ihnen Masken und Fackeln, steigt selbst
zu Pferde, maskiert, schwarzgekleidet und mit Fackeln, und
überrascht so die Wache, die ihn für Lucifer mit Höllengeistern
hält und die Leiche rauben läßt. Jetzt läßt der Doge zwanzig
Tage lang kein frisches Fleisch in Venedig verkaufen und dann
nur ein Kalb schlachten und das Pfund Fleisch davon für einen
Gulden feil bieten. Der Verkäufer soll merken, wer davon
kauft, denn der Doge nimmt an, daß der Dieb auch lecker
ist und es kaufen wird. Niemand kauft, aber die Mutter
Richards will gern davon haben. Richard verkleidet und beladet
sich mit Eiswaren und Wein und begibt sich nachts an den
Ort, wo das Fleisch verkauft wird, und läßt dort — unter
einem Vorwande — den Wein zurück, an dem sich die Wächter
berauschen und einschlafen, und stiehlt dann das ganze Fleisch.
Nun läßt der Doge hundert Arme bettelnd herumgehen, mit
dem Auftrage, aufzupassen, wo einer etwa Fleisch bekomme.
Wirklich gibt Richards Mutter einem Armen ein Stück Fleisch,
aber der Sohn begegnet ihm noch auf der Treppe und schlägt
ihn tot. Jetzt schlägt einer der Räte des Dogen vor, nachdem
man vergeblich durch Leckerei versucht habe, durch Üppigkeit
den Dieb auszukundschaften zu suchen. Fünfundzwanzig ver-
dächtige Jünglinge, darunter Richard, werden in den Palast
eingeladen und erhalten ihre Betten in einem Saale, wo auch
die schöne Dogentochter schläft. Sie hat heimlich einen Topf
mit schwarzer Farbe bei sich und soll dem, der zu ihr ans
Bett kommt, das Gesicht schwärzen. Keiner wagt es, dem
Bett der Schönen zu nahen, nur Richard umarmt sie zweimal.
Das zweite Mal merkt er, daß sie ihm das Gesicht schwärzt
Er nimmt nun den Topf und macht sich noch vier Striche, allen
andern aber zwei, drei, zehn Striche. So erscheinen am andern
Morgen alle gezeichnet, und der Anschlag des Dogen ist vereitelt
Da verspricht der Doge dem Täter die Hand seiner Tochter und
Verzeihung, und nun gesteht Richard alles" (Kl. Sehr. S. 203/4).
Dies ist der Inhalt der italienischen Novelle, und von
ihm weicht der isländische Schwank nur in einzelnen Neben-
sächlichkeiten ab. Im Isländischen stiehlt der Sohn nicht
mit dem Yater, sondern sucht ihn erst auf, wie er einmal
wider Erwarten lange von Hause fortbleibt. Bei Giovanni haut
sich der Sohn in die Hand, nach der isländischen Erzählung
ins Bein. Zwölf Lastträger als Mönche verkleidet und er selbst
in schwarzem Gewände zu Pferd erschrecken im Italienischen
die Wächter am Galgen — im Isländischen sind es sieben be-
rittene Leute in Goldgewändern. Nur zwanzig Tage sollen die
Venetianer kein Fleisch essen oder sonst von dem einen Kalbe
ein Pfund Fleisch für einen Gulden kaufen, nach der isländischen
Erzählung dauern diese Fasten jedoch acht Wochen, und das
Kalb ist für achttausend Gulden verkäuflich. Hundert Arme
betteln bei Giovanni um Fleisch, während im Isländischen nur
von zwanzig Leuten die Rede ist. Fünfundzwanzig verdächtige
Jünglinge werden vom Dogen in den Palast eingeladen und
müssen in der Nacht im gleichen Saale mit der schönen Dogen-
tochter schlafen. Der Fürst hingegen ladet alle Männer zwischen
achtzehn und vierzig Jahren zu einem Gastmahl und weist
ihnen nachher, wie sie betrunken sind, einen gemeinsamen
Schlafsaal an, ohne daß sie jedoch wissen, daß von hier aus
die Tochter des Gastgebers zu erreichen ist. Die Dogentochter
schwärzt dem zu ihr Kommenden das Gesicht, und Richard
versieht darum alle im Saale ebenso wie sich selber mit einer
beliebigen Anzahl von Strichen. Die Tochter des Fürsten
zeichnet Rikkur dreimal mit einem roten Striche, infolgedessen
bekommen auch alle übrigen von ihm drei Striche ins Gesicht
gezeichnet.

Dies sind die nebensächlichen Züge, in denen beide
Schwanke voneinander abweichen, und die sich nur durch die
immer etwas ungenaue mündliche Überlieferung erklären lassen.
Denn wenn der isländische Erzähler (aller Wahrscheinlichkeit
nach ein alter Sattelmacher, namens Jön, aus der Rángárvalla-
sýsla) den doch seltenen Pecorone des Ser Giovanni in irgend
einer Übersetzung vor Augen gehabt hätte, würde er seine
Vorlage genauer wiedergegeben haben. Eine andere Frage
ist freilich noch die, ob beide Erzählungen nicht unabhängig
voneinander einer gemeinsamen Quelle gefolgt sind. Denn
auch die italienische Vorlage weist — soweit ich es nach
Köhlers kurzer Inhaltsangabe beurteilen kann — zwei Züge
auf, die verraten, daß die Erzählung ursprünglich an einem
andern Orte wie gerade Venedig gespielt haben muß. Der
Leichnam des Vaters wird „durch die Straßen" geschleppt,
und die zwölf Lastträger, die den Leichnam vom Galgen rauben
sollen, werden vom Sohne des Diebes zu Pferde angeführt. —
Beides doch Züge, die in Venedig nicht gut am Platze er-
scheinen. — Was den Namen des Listigen, „Rikkur", anbetrifft,
so könnte er ganz gut aus Ricardo verstümmelt worden sein.
Er findet sich sonst nicht im Isländischen, wenigstens weist
der Artikel „Um Islenzk mannanöfn" (Safn til sögu Islands og
fslenzkra bökmenta III 4 S. 659 ff.) nur die aus dem Deutschen
gebildete Form Rikkard nach.

aus Adeline Rittershaus: Die neuisländischen Volksmärchen. Ein Beitrag zur vergleichenden Märchenforschung, Halle 1902, S. 451ff

Tilberg 11:21, 16. Jul. 2022 (CEST)

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